Die Liebe, eine unerfüllte Sehnsucht
Intensiver Theaterabend: Bonn „Ensemble déjà-vu“ zeigt Ingmar Bergmans „Herbstsonate“ im Hambacher Theater in der Kurve


Von Oliver Steinke


NEUSTADT-HAMBACH. Unterdrückte Konflikte und seelische Abgründe waren so etwas wie die Spezialität des 2007 verstorbenen schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, so auch im Film „Herbstsonate“, den er 1978 mit Liv Ullmann und Ingrid Bergman verfilmte. Mit Bergmans Theaterstück von 1971, das diesem Film zugrunde lag, gastierte am Freitag und Samstag das Bonner „Ensemble déjà-vu“ im Hambacher „Theater in der Kurve“. Die Zuschauer erlebten einen intensiven, aufwühlenden Theaterabend.


Ungewöhnlich bei der Inszenierung des aus Landau stammenden Regisseurs Achim Haag ist die Einleitung, denn der Dramaturg, der unter anderem als Generalsekretär der Deutsch-Französischen Hochschule in Saarbrücken tätig war, steuert einen Song der eigenen Rockband „The Seven Sins“ bei: „Blue Window“. Melodie und Text passen zur zentralen Frage des Stücks: „Werde ich geliebt und wirklich gesehen?“ Im Gegensatz zur titelgebenden „Herbstsonate“ Chopins, in der der Schmerz dominiert, vermittelt „Blue Window“ eher Hoffnung und wird dann am Ende noch einmal gespielt werden.


In „Herbstsonate“ geht es vor allem um eine unerfüllte, belastete Mutter-Tochter-Beziehung. Die Mutter Charlotte (gespielt von Gudrun Haupt), eine international gefeierte Konzertpianistin, kündigt nach sieben Jahren Abwesenheit ihren Besuch bei Tochter Eve (Sabine Quiske) und deren Mann Viktor (Steffen Fischer) an, einem auf dem Land lebenden Pfarrerehepaar. So recht scheint das Paar angesichts zahlloser fehlgeschlagener Einladungen nicht daran zu glauben, doch die zu diesem Zeitpunkt noch „liebste kleine Mama“ kommt diesmal tatsächlich, da sie zum Begräbnis ihres langjährigen Liebhabers Leonardo ohnehin in die Gegend reist.


Dass Charlotte eine sehr egozentrische Persönlichkeit ist, wird bereits kurz nach ihrer Ankunft offensichtlich: Erst beklagt sie den Tod Leonardos, um sich dann, ohne Atem zu holen, mit ihrem Äußeren zu beschäftigen. Auch ihr abweisendes Verhalten ihrer zweiten, kranken Tochter Helena gegenüber, die von Eva seit Jahren im Pfarrhaus gepflegt wird, spricht für charakteristische Defizite. Anders als im Film wird Helena im Stück nicht gezeigt, allerdings wirkt ihr indirekter Auftritt durch die Aussagen von Schwester und Mutter vielleicht sogar noch eindringlicher. Während Eva sich ihr liebevoll zuwendet, möchte ihre Mutter nichts von ihrer Tochter wissen. „Nicht nur, dass Leonardo gestorben ist, musstest du nun auch noch Helena hier anschleppen, sie hatte es doch so gut in ihrer Anstalt für Unheilbare!“ Und schließlich kurz vor ihrer Abreise: „Warum kann sie nicht einfach sterben?!“


Am ersten gemeinsamen Abend spielt Eva für ihre Mutter auf dem Klavier die Prélude Nr. 2 in a-Moll von Chopin, die „Herbstsonate“ – doch Charlotte gefällt die Darbietung nicht. Anschließend spielt sie selbst das Stück sehr gefühlvoll und intensiv. Anscheinend kann sie (nur?) in ihrer Musik ganz lebendig sein. Kurz darauf bricht Evas lang aufgestauter Hass hervor. Sie erzählt von Eric, ihrem tödlich verunglückten Sohn mit Viktor, von dem Charlotte gar nichts wusste. Von ihrer qualvollen Kindheit, in der sie sich von der Mutter nie wahrgenommen sah, stattdessen gegängelt und fremdbestimmt fühlte: „Ich war für dich wie eine Puppe. Ich selber fand mich beinahe widerlich.“


Als Charlotte sie fragt, warum Eva sie so „entsetzlich“ hasse, erhält sie eine Reihe erschreckender Antworten, die alle mit „weil“ eingeleitet werden. Unter anderem: „Weil du in dir selber eingeschlossen bist. Weil du mich in deinem kalten Schoß getragen hast.“ Charlotte bekommt Schuldgefühle und fleht ihre Tochter an, sie zu umarmen, aber im Angesicht von Evas aufbrechenden Schmerzen scheint dies ein schlecht gewählter Zeitpunkt: Eva sitzt reglos, wie versteinert, die Mutter zu ihren Füßen verliert hier zum ersten und einzigen Mal die Fassung.


Charlottes nächster Auftritt am Morgen ist für die Zuschauer dann aber wie eine kalte Dusche: „Ich pfeife auf irgendwelche Selbsterkenntnisse!“, schiebt sie, wieder elegant gekleidet, das Geschehen in der Nacht von sich weg, telefoniert, ganz die Diva, mit ihrem aktuellen Liebhaber und reist überstürzt ab, natürlich ohne sich von Helena zu verabschieden.


Achim Haags Inszenierung zeigt, ganz im Sinn von Ingmar Bergman, den wahrscheinlich seine eigene frühere Frau, die Konzertpianistin Käbi Lareti, zu der Figur der Charlotte inspirierte, die Kluft zwischen der Sehnsucht nach Liebe und der Unfähigkeit, andere wahrzunehmen und selbst Liebe zu schenken. Die unerfüllte Liebessehnsucht betrifft dabei alle drei dargestellten Charaktere und wird von den Darstellern in ihrer jeweiligen Einsamkeit gut auf die Bühne gebracht. Denn auch Eva lebt mit ihrem Mann Viktor, obwohl sie ihn erklärtermaßen nicht liebt, während er vage von „Sehnsucht“ spricht. Alle drei scheinen vor dem gleichen Problem zu stehen: „Wenn mich jemand liebte, wie ich wirklich bin, würde ich vielleicht den Mut haben, mich selbst anzusehen!“


Durch die intensive und einfühlsame Darstellung gelingt es dem „Ensemble déjà-vu“ aufzuwühlen und nachdenklich zu stimmen. Es sind keine schönen Gefühle, die ausgelöst werden, vielmehr Anstöße, um das eigene innere Eltern-Kind-Verhältnis zu hinterfragen. Mehr kann man von Theater nicht erwarten!


Aus: Rheinpfalz, Neustadt-Hambach, 07.09.2015